Kastration beim Hund (Teil 3) – Die Kastration des Rüden
Über 10 Millionen Hunde leben in deutschen Haushalten. Eine Frage haben alle diese Hundehalter und Hundehalterinnen gemein: "Soll ich meinen Hund kastrieren lassen?". Die Kastration beim Hund ist ein Thema, das jeden Hundemenschen angeht – sprechen wir also drüber! Dieser Artikel ist der dritte Teil unser Artikel-Reihe zum Thema Kastration. Er setzt sich mit den biologischen Grundlagen, sowie mit den häufigsten Gründen der Kastration beim Rüden auseinander.
Im 1. Teil zum Thema Kastration habe ich bereits darüber berichtet, dass es nach den Ergebnissen unterschiedlicher Studien so scheint, dass Rüden meist aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten kastriert werden, während bei den Hündinnen medizinische beziehungsweise prophylaktische Vorteile am häufigsten als Kastrationsgrund genannt werden.
Doch bevor wir das Thema Kastration und Verhalten des Rüden genauer unter die Lupe nehmen, werfen wir erstmal einen Blick in die Grundlagen der Steuerung der Sexualhormone.
Mehr über die Kastrationsgründe bei der Hündin erfährst du hier.
Steuerung der Sexualhormone beim Rüden
Die hormonelle Steuerung der Sexualhormone beginnt im Gehirn. Der Hypothalamus sendet das Gonadotropin Releasing Hormon (GnRH) aus. Das GnRH bindet nun an die entsprechenden Rezeptoren der Hypophyse, die daraufhin das follikelstimulierende Hormon (FSH) und das luteinisierende Hormon (LH) freisetzt. Das FSH und das LH werden auch als Gonadotropine zusammengefasst. Das FSH und das LH verlassen das Gehirn und gelangen über das Blutkreislaufsystem zu den Hoden des Rüden.
Hormonelle Steuerung beim Rüden – die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse erklärt
Im Hoden angekommen sorgt das LH in den sogenannten Leydig-Zellen für die Herstellung des Testosterons. Das Testosteron sorgt jetzt wiederum in den Hodenkanälchen für die Produktion der Spermien, diesen Vorgang nennt man auch Spermatogenese. Um die in den Hodenkanälchen enthaltenen Spermien vor giftigen Stoffen oder Angriffen des körpereigenen Immunsystem zu schützen, werden die Hodenkanälchen durch die sogenannten Sertoli-Zellen vom Blutsystem abgegrenzt. Sie bilden damit die sogenannte Blut-Hoden-Schranke. Die Sertoli-Zellen, die durch das FSH reifen können, haben also für die Fortpflanzung eine sehr entscheidend Aufgabe.
Darüber hinaus werden in den Sertoli-Zellen noch zwei Proteine, das androgenbindende Globulin (ABG) und das Inhibin, sowie das Enzym Aromatase hergestellt, welche für den hormonellen Regelkreis von großer Bedeutung sind. Das Inhibin ist wichtig für die negative Rückkopplung zur Hypophyse. Das bedeutet, eine entsprechend hohe Inhibin-Konzentration signalisiert der Hypophyse, dass die Produktion von FSH eingestellt werden soll. Das ABG hingegen hat die Aufgabe das Testosteron, welches in den Hodenkanälchen produziert wird, durch die Blut-Hoden-Schranke zu den Keimzellen zu transportieren. Eine sehr hohe Testosteronkonzentration sorgt in der Hypophyse dafür, dass kein LH mehr freigesetzt wird.
Bei dem Enzym, welches die Sertoli-Zellen produzieren, handelt es sich um die Aromatase. Es katalysiert die Umwandlung von Testosteron zu Östrogen. Diese chemische Reaktion nennt man Aromatisierung. Sie ist ein entscheidender Schritt zur Herstellung, also für die Biosynthese, von Östrogen.
Der dominante und aggressive Rüde
Schauen wir uns mal den Kastrationsgrund Nummer eins beim Rüden, die Verhaltensproblematiken, genauer an. Laut einer Studie aus dem Jahr 1989 von Knol und Egberink‐Alink, ließen sich durch eine Kastration folgende Problematiken beim Rüden reduzieren:
- Streunen
- Urinmarkieren
- Aggression gegenüber anderen Rüden.
Wichtig hierbei ist jedoch, dass sich diese aufgezählten Problematiken nur dann reduzieren lassen, wenn sie testosteronabhängig sind. Das bedeutet, wenn es das Testosteron ist, welches den Rüden dazu veranlasst zu Streunen, zu Markieren und unangemessene Aggression gegenüber anderen Rüden zu zeigen, dann ist eine Kastration ein geeignetes Mittel, um dieses Verhalten zu reduzieren. Auf der anderen Seite können aber alle aufgezählten Problematiken auch unabhängig vom Testosteron gezeigt werden. So kann ein Hund durchaus auch jagdlich motiviert, anstatt sexuell motiviert, streunen. In ihrem Buch "Kastration und Verhalten" aus dem Jahr 2011 weisen Strodbeck und Gansloßer in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Tendenz erkennbar sei, dass die jagdliche Motivation von Rüden nach einer Kastration sogar gesteigert vorkommen kann. In einem solchen Fall zu kastrieren, könnte das Verhalten von jagdlich motivierten Hunden also noch verschlimmern. Beim Urinmarkieren sei lediglich eine Verbesserung zu vermerken, wenn Rüden innerhalb der Wohnräume markieren. Das Urinmarkieren draußen scheint weitestgehend unbeeinflusst.
Der dritte Punkt der Liste – das Aggressionsverhalten – liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich bin nicht nur in der Verhaltenswissenschaft, sondern auch als Hundetrainerin tätig. Fast täglich arbeite ich mit Kunden oder Kundinnen zusammen, die unsere Hilfe suchen, weil ihr Hund unangemessenes Aggressionsverhalten zeigt. Nicht selten sind diese Hunde kastriert worden, "Weil man das eben so macht!" oder weil angeraten wurde, kastrieren zu lassen, mit dem Ziel dem Hund die Aggression zu nehmen. Dabei muss jedoch unbedingt beachtet werden, dass eine Kastration bezüglich aggressivem Verhalten nur dann eine Verbesserung bewirken kann, wenn die gezeigte Aggression sexuell motiviert ist.
Doch neben der sexuell motivierten Aggression gibt es noch viel mehr Motivation für einen Hund Aggressionsverhalten zu zeigen – zum Beispiel die sozial motivierte Aggression oder die Selbstverteidigungsaggression. Die sozial motivierte Aggression kann sich zum Beispiel bemerkbar machen, wenn die Halterin schwanger ist, gerade ein Kind bekommen hat oder aber gerade ein Welpe eingezogen ist. Das für derartige Reaktionen verantwortliche Hormon ist das Prolaktin. Prolaktin löst Brutpflegeverhalten aus (sowohl bei der Hündin als auch beim Rüden) und kann sogar dafür sorgen, dass ein kastrierter Rüde zur Milchbildung neigt. Für gewöhnlich kümmern sich in einem Hunderudel nicht nur die Väter, sondern auch andere Rüden um die Welpen, indem sie sie schützen oder mit ihnen spielen. Probleme im Verhalten, egal ob bei Hündin oder Rüde, die durch Prolaktin gesteuert werden, lassen sich nicht durch eine Kastration beheben. Ganz im Gegenteil. Eine Kastration hätte bei einem Rüden an dieser Stelle negative Konsequenzen, da eine Wechselwirkung zwischen Testosteron und Prolaktin besteht. Ist weniger Testosteron vorhanden, wird mehr Prolaktin produziert und kann die Verteidigungsaggression auf Grund von Brutpflegeverhalten noch verstärken.
Bei der Selbstverteidigungsaggression mit welcher ich, im Zuge meiner Tätigkeit im Hundetraining, fast täglich konfrontiert bin, kann eine Kastration ebenfalls zu einer Verschlimmerung der Verhaltensprobleme führen. Um hierauf noch ein wenig detaillierter einzugehen, müssen wir uns zunächst mit dem Thema Stress auseinander setzen.
Stress und Kastration
Wenn Hunde unangemessenes Aggressionsverhalten gegenüber Artgenossen zeigen, dann befinden sie sich in der Regel in einem Stress-Zustand. Zu verstehen was Stress ist, wie er entsteht und welcher Zusammenhang mit den Sexualhormonen besteht, ist für eine fundierte Kastrationsentscheidung sehr wichtig. Daher schauen wir uns das Thema Stressreaktion doch mal ein wenig genauer an.
Was ist Stress?
Stress kann definiert werden als die Summe aller, durch sogenannte Stressoren ausgelöste, unspezifischen Effekte, die den Energieverbrauch erhöhen. Die Erhöhung des Energieverbrauchs führt zu einer Störung der Homöostase – zu einem Ungleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen - und so zu Stressreaktionen. Als eine Stressreaktion werden letztendlich alle notwendigen Anpassungen zusammengefasst, die der Körper vornehmen muss, um dieser Situation (Notsituation) entgegen zu wirken. Das heißt, Stressreaktionen sind nicht nur völlig normal, sondern auch überlebensnotwendig. Stressreaktionen kann man unterscheiden in Reaktionen auf einen akuten und kurzzeitigen Stressor (Cannon-Stress-Syndrom) und Anpassungen an einen anhaltenden Stressor (Selye-Stress-Syndrom).
Die Stressreaktionen im Detail
Stress beginnt im Gehirn. Bei einer akuten, kurzzeiten Stressantwort kommt es zu einem Ablauf des folgenden Regelkreises: Vom Hypothalamus wird das Corticotropin-releasing-Hormon (CRH) ausgeschüttet. Dieses Hormon kann nun an den Hormonrezeptoren der Hypophyse binden. Daraufhin schüttet die Hypophyse das Adrenocorticotrope Hormon (ACTH) aus. Das ACTH sorgt im Nebennierenmark für die Ausschüttung der wasserlöslichen Hormone Adrenalin und Noradrenalin, die diverse körperliche Reaktionen hervorrufen. Das Noradrenalin sorgt zum Beispiel für einen erhöhten Herzschlag und Blutdruck. Das Adrenalin veranlasst Fettabbau, Gefäß- und Bronchienerweiterung sowie die Bereitstellung von Zucker. Darüber hinaus sorgt Adrenalin auch für eine erhöhte Noradrenalin-Ausschüttung.
Hält der Stressor jedoch an, so muss der Organismus sich auch auf Langzeitstress einstellen. Hinsichtlich dieser Anpassungsreaktion wird nun in der Nebennierenrinde das Hormon Cortisol ausgeschüttet. Cortisol ist im Gegensatz zu Adrenalin und Noradrenalin ein fettlösliches Hormon. Um im Blutsystem transportiert zu werden, muss das Cortisol an Trägersubstanzen gebunden werden. Anders als die wasserlöslichen Hormone kann es, am Zielort angekommen, direkt ins Innere der Zelle gelangen, da die Zelle von einer fettlöslichen Membran (Lipidmembran) umgeben ist. Fettlösliche Hormone können sogar ins Innere des Zellkerns gelangen und dort den Ablesevorgang der DNA (= Desoxyribonukleinsäure; das gesamte Erbgut) beeinflussen. Dadurch dass das Cortisol erst einmal an eine Trägersubstanz gebunden werden muss und dieser Vorgang eine gewisse Zeit dauert, trifft die Wirkung langsamer ein als bei den wasserlöslichen Hormonen. Erst nach etwa 20 Minuten hat das Cortisol seinen Höhepunkt erreicht. Dafür hält eine Cortisolwirkung aber auch länger an.
Doch was haben nun die Sexualhormone mit der Stressreaktion zu tun?
Im limbischen System, im Bereich der Amygdala befinden sich Rezeptoren an die sowohl Sexualhormone als auch Cortisol binden können. Je mehr Rezeptoren von Sexualhormonen besetzt sind, desto weniger kann Cortisol binden und eine Stressantwort auslösen. Das bedeutet, die Sexualhormone dienen als Gegenspieler des Stresshormons Cortisol und können Stress entgegenwirken. Kastriert man also einen Rüden (gleiches gilt auch für die Hündin) aufgrund von defensiver Futteraggression, Selbstverteidigung, Territorial- oder Leinenaggression – also Aggressionsformen aufgrund von Unsicherheit oder Eigenschutz, so kann sich dieses unangemessene Verhalten sogar noch verschlimmern.
Es ist also sehr wichtig die Frage zu klären, ob das unangemessene Aggressionsverhalten auch wirklich testosteronabhängig ist. Ist man sich hierbei unsicher, dann könnte man zum Beispiel nach Absprache mit der beutreuenden Hundeschule sowie Tierarztpraxis einen Kastrationschip ausprobieren.
Die Wirkung von Kastrationschips
Kastrationschips funktionieren über die Gabe des Wirkstoffs Deslorelin, einem sogenannten GnRH Agonist, also ein Wirkstoff, der an die gleichen Rezeptoren wie das GnRH bindet. Durch die erhöhten Konzentrationen die der Chip abgibt, kommt es zunächst zu einer gesteigerten Ausschüttung der Gonadotrophine und so zu einer erhöhten Produktion von Testosteron. Wenn das Problemverhalten also testosteronabhängig ist, kommt es in den ersten Wochen auch zu einer Verschlechterung des Verhaltens. Durch die Dauerreizung der GnRH Rezeptoren, kommt es nach einer gewissen Zeit zu einer Inaktivierung dieser Bindungsstellen, GnRH kann nicht mehr binden und es kann folglich auch kein Testosteron mehr hergestellt werden. So kann eine chirurgische Kastration simuliert werden. Kastrationschips sind aktuell mit einer Wirkdauer von sechs oder zwölf Monaten verfügbar. Dabei ist zu beachten, dass der Wirkstoff für einen 20 kg schweren Hund dosiert ist. Wiegt der Hund deutlich weniger, hält der Chip auch länger an. Wiegt der Hund deutlich mehr, so ist die Wirkdauer verkürzt. Im Gegensatz zum chirurgischen Eingriff, kann die Kastrationswirkung des Chips wieder rückgängig gemacht werden. Wenn man also mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, muss man lediglich warten bis der Chip an Wirkung verliert.
Fazit – Einzelfallentscheidung statt Pauschalkastration
Die Kastration des Rüden ist kein unerheblicher Eingriff. Es handelt sich um eine Amputation innerer Organe, die einen erheblichen und irreversiblen Eingriff in das Leben des Tieres darstellt. Darum ist es wichtig eine Kastrationsentscheidung gründlich abzuwägen und keine vorschnellen Maßnahmen zu ergreifen. Hierfür ist es entscheident sich mit den hormonellen und verhaltensbiologischen Gegebenheiten auseinander zu setzen - insbesondere dann, wenn man sich bestimmte Verhaltensveränderungen erhofft. Unerwünschtes Verhalten lässt sich in vielen Fällen nicht gezielt durch eine Kastration beheben und kann unter Umständen sogar zu einer Verstärkung von Verhaltensproblemen führen. Eine Einzelfallbetrachtung ist hierbei unerlässlich.
Mehr zum Thema Kastration – zum Beispiel zum Thema Frühkastration und Nebenwirkungen gibt es bald in weiteren Teilen unser Kastrationsreihe. Abonniere am besten den Cleverdog Campus Newsletter, um keinen Artikel zu verpassen.
Mehr Infos rund um die Kastration beim Hund findest du in folgenden Artikeln:
Quellen & weitere Links zum Thema
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Knol, B. W. and Egberink‐Alink, S. T. (1989). Treatment of problem behaviour in dogs and cats by castration and progestagen administration: a review. Veterinary Quarterly, 11(2), 102-107.
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Farhoody, P. and Zink, M. C. (2010). Behavioral and physical effects of spaying and neutering domestic dogs (Canis familiaris). Unpublished summary of a Masters thesis, Hunter College, NY.
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Book, A. S. et al. (2001). The relationship between testosterone and aggression: A meta-analysis. Aggression and Violent Behavior, 6(6), 579-599.
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Neilson, J. C. et al. (1997). Effects of castration on problem behaviors in male dogs with reference to age and duration of behavior. Journal of the American Veterinary Medical Association, 211(2), 180-182.
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Kim, H. H. et al. (2006). Effects of ovariohysterectomy on reactivity in German Shepherd dogs. The Veterinary Journal, 172(1), 154-159.
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Vogel, G. und Angermann, H. (1990). dtv-Atlas zur Biologie (Band 3). Auflage, Deutscher Taschenbuchverlag München, S, 475.
Jennifer Schmitz
Jenny ist Biologin und widmet sich in der AG Mammalia der Verhaltensbiologie des Hundes. Ihren M.Sc. schloss sie mit einer Arbeit zum Thema „Kastration und Verhalten beim Hund“ ab. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist sie als Hundetrainerin tätig.
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